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Krav Maga Greifswald - Blog

Autor: Thilo Steinke

Kampfsport Kampfkunst Selbstverteidigung

Erstellt von Thilo Steinke |

 

Was soll ich tun? Das ist nicht nur Kants Frage nach ethischen Grundsätzen, sondern auch die Frage, wenn eine Person mit einer Kampfdisziplin anfangen möchte. Der Markt ist vielfältig und wie in allen Bereichen kann man als Laie den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.

 

Dieser Beitrag bringt mehr Differenziertheit in die diffusen Begrifflichkeiten. Man kann drei Kategorien unterscheiden: Kampfsport, Kampfkunst und Selbstverteidigung.

 

Relativ einfach ist Kampfsport zu beschreiben. Zwei oder mehr Kontrahenten von etwa gleicher Kraft, Statur, Masse, Fähigkeit, etc. treten freiwillig gegeneinander an, um sich zu messen. Meistens gibt es ein Regelwerk und eine Instanz, die dieses Regelwerk durchsetzt. Das ist ein wichtiger Unterschied zur Selbstverteidigung. Das bekannteste Beispiel für Kampfsport ist in unseren Breiten Boxen. Ebenfalls bekannt sind auch das japanische Judo, das koreanische Taekwondo und das griechisch-römische Ringen. Eine verhältnismäßig moderne Erscheinung ist MMA. Die Abkürzung steht für Mixed Martial Arts. Dort ist in der Regel mehr erlaubt als in den älteren Kampfsportarten, etwa Schläge, Tritte, Würfe, Hebel, Würgen. Aber selbst hier gibt es eine lange Liste an Dingen, die verboten sind, z.B. Kopfstöße, Augen angreifen, Beißen, Tritte zu den Genitalien, Fingerhebel. Auf der anderen Seite können die Wettkämpfe dadurch mit einer Intensität stattfinden, die sonst nicht möglich wäre.

 

Kampfkunst ist ein Begriff, der deutlich nebulöser ist. Manche sagen, dass die alten Kriegskünste unserer Vorfahren Kampfkunst ausmachen, dass alle Kampfsportarten verwässerte Versionen von Kampfkünsten seien, in denen nur viele Techniken verboten sind. Andere wiederum betonen, dass es um die Entfaltung der Persönlichkeit ginge, was allerdings in den allermeisten Fällen Unsinn ist, jedenfalls ist dieser Effekt nicht nachgewiesen. Dazu müsse man (bewusst) atmen, sich verneigen und Respekt lernen. Richtig ist, dass korrektes Atmen gesundheitsförderliche Effekte aufweist. Richtig ist aber auch, dass wenige Kampfkünste eine korrekte Art zu atmen lehren und dass richtiges Atmen sich auf alle Lebensbereiche der betreffenden Person positiv auswirkt. Auch im Bereich des Kampfsport oder der Selbstverteidigung ist dies demnach ein relevanter Punkt. Insofern ist Atmen kein geeignetes Differenzierungskriterium. Respekt kann man sicher auch im Rahmen einer Kampfkunst lernen, aber die Erfahrung zeigt, dass diese Form von Respekt schnell in Autoritätshörigkeit mündet. Respekt lernt man in frühen Jahren von den engsten Bezugspersonen, also meistens den Eltern. Allen Varianten gemeinsam ist hingegen, dass es um etwas Tradiertes geht. Deswegen sind Lehrer-Schüler-Linien in den Kampfkünsten enorm wichtig. Es geht demnach eher darum, wie man es früher gemacht hat, als nach der Frage, was unter bestimmten Aspekten (Gesundheit, Selbstschutz, Fitness) funktional ist.

 

Wichtig ist es allerdings in allen drei Bereichen, willensstark zu sein und eine hohe Selbstdisziplin zu haben. Am Beispiel der Selbstdisziplin: Im Kampfsport braucht man sie, um das rigorose Training allein schon physisch durchzustehen. In den Kampfkünsten braucht es die Selbstdisziplin, um die mühelose Eleganz, Ästhetik und Perfektion der Bewegungen zu erreichen. In der Selbstverteidigung geht es beispielsweise darum, sich nicht auf eine Provokation einzulassen, die sonst in einer physischen Auseinandersetzung enden würde.

 

Selbstverteidigung ist ebenfalls ein Begriff, der umstritten ist. Selbstverteidigung wird hier folgendermaßen verstanden: alle Methoden, um durch einen Angriff keinen oder einen geringeren physischen oder psychischen Schaden zu erleiden. Dabei sind auch und gerade jene Strategien und Taktiken erfasst, in denen es um Vermeidung, Weglaufen und Deeskalation geht. Es geht darum, dass das Leben nach dem Vorfall genauso weitergeht, wie es davor war und nicht einen Pokal zu gewinnen. Selbstverteidigung schreiben sich fast alle Kampfdisziplinen auf die Fahne und selbst im Bereich der reinen Selbstverteidigung gibt es Unterkategorien wie etwa „realitätsbasierte Selbstverteidigung“ oder „Combatives“. Dies alles sind letztlich persönliche Präferenzen und willkürliche Bezeichnungen. Wenn eine Disziplin erfolgreich darin ist, dass ein Angriff keinen oder geringeren Schaden zur Folge hat, ist das Wesentliche erfüllt. Dies hat sich natürlich auch in den jeweiligen Grenzen des Strafrechts zu bewegen. Die Aussagen „no rules“ oder „auf der Straße gibt es keine Regeln“ sind schlicht Quatsch. Im Geltungsbereich des StGB ist vor allem § 32, also die Notwehr, relevant. Eine Form der Selbstverteidigung, die ihre Ausübenden systematisch zu Straftätern macht, ist gefährlicher als gar nicht zu trainieren. Das betrifft sowohl diejenigen, die sich strafbar machen als auch deren Opfer als auch die Gesellschaft, die die Kosten zu tragen hat. Selbstverteidigung bedeutet, sich nicht verletzen zu lassen und nicht, den anderen Teil zu verletzen. Wenn also das Training hauptsächlich daraus besteht, an Schlagpolstern die Schlagkraft zu trainieren oder Übungskämpfe zu machen, dann handelt es sich nicht um Selbstverteidigungstraining.

 

Wer also eine Kampfdisziplin sucht, der sollte sich vorher eingehend fragen: was suche ich eigentlich? Möchte ich mich messen? Dann ist Kampfsport zumindest die richtige Kategorie. Innerhalb dessen gibt es gewaltige Unterschiede. Wer es zum Beispiel eher distanziert mag, für den wären Brazilian Jiu Jitsu (eine hochspezialisierte Kampfsportart für den Bodenkampf), Ringen und Judo nichts. Diese Person sollte sich Taekwondo oder Karate ansehen. Karate sucht den einen Schlag, Judo sucht den einen Wurf, Ringen sucht die eine Fixierung am Boden. Wer all die Limitierungen nicht mag, kann sich im MMA oder beispielsweise Sambo umsehen. (Combat-)Sambo ist so etwas wie die russische Variante des MMA, nur dass sie deutlich älter ist.

 

Wem es wichtig ist, Traditionen zu bewahren, der wird in Kampfkünsten fündig. Es gibt sie weltweit: z.B. indisches Kalarippayat, chinesisches Wushu (besser bekannt als Kung Fu), okinawanisches Karate, japanische Koryu, philippinisches Kali/Arnis/Escrima, europäischer Schwertkampf, thailandisches Muay Thai Boran. Dabei ist jeder dieser Begriffe nur ein Sammelbecken unterschiedlichster Strömungen. Japanische Koryu etwa enthalten jene, die sich auf Schwerttechniken beschränken, manche auf die Naginata (eine Art japanischer Speer) und manche verzichten vollständig auf Waffen oder kombinieren sie. Eine bekannte Kampfkunst moderner Prägung ist Aikido, das für manche schön anzusehen ist. Ästhetik kann genauso eine Motivation sein. Da sie im Auge des Betrachters liegt, kann beispielsweise auch das bekannte Taiji in seinen vielfältigen Ausprägungen als schön empfunden werden.

 

Die Erzählung, dass einige Kampfkünste aus Kriegskünsten entstanden sind, ist nicht falsch. Richtig ist aber auch, dass sich der Kontext der Techniken im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Beispielsweise muss man heute nicht mehr wissen, wie man eine Rüstung trägt und wo die Schwachpunkte sind. Man braucht heute keine Laterne mehr hochzuhalten, um illegal nachts das Fechten zu üben. Ferner braucht man heute nicht mehr zu befürchten, dass jemand das eigene Schwert aus der Scheide zieht, um es gegen den Träger einzusetzen. Die wenigsten laufen mit Schwertern an ihrem Gürtel herum und wenn sie es außerhalb karnevalistischer Ereignisse tun, dürfte die staatliche Gewalt kaum darüber erfreut sein. Wer den Sinn oder Unsinn antiker Techniken beurteilen will, muss sich mit der jeweiligen Zeit auseinandersetzen und darf sie nicht rundweg aburteilen. Umgekehrt müssen sich jene, die solche Kampfkünste üben, klar darüber sein, dass ihre Techniken nicht automatisch in die heutige Zeit transferiert werden können, ohne ihre Funktionalität einzubüßen.

 

Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es immer dann, wenn es ein festes Curriculum gibt und das ist in allen Kampfkünsten, aber nicht nur dort der Fall, man von einem Programm sprechen muss, das nicht oder kaum noch hinterfragt werden darf. Dies kann man Stiltreue nennen. Der Stil ist das, was weitergetragen, also tradiert wird. Für Synergieeffekte von Kampfkunst in Richtung Selbstverteidigung ist zu beachten, dass Ansammlungen von Techniken selten funktional sind. Ein Curriculum ist in aller Regel eine solche Ansammlung. In vielen Kampfkünsten sind die Angriffe choreographiert oder jedenfalls abgesprochen, so dass die vorgesehenen Techniken überhaupt funktionieren können. Dieses Problem trifft aber auch viele Schulen, die Selbstverteidigung unterrichten. Es ist zwar richtig, dass ein Training progressiv aufzubauen ist, aber wenn man nicht zu einem Szenariotraining mit verbaler Vorphase und einer chaotisch-dynamischen physischen Konfrontation kommt, dann ist es zumindest ein unvollständiges Training.

 

Ein fest stehendes Curriculum beinhaltet nicht nur Techniken und gegebenfalls Taktiken, sondern auch die Art und Weise, wie die Inhalte zu lehren sind. Das ist im Kampfsport und in der Selbstverteidigung an. Im Kampfsport geht es um Resultate. Das heißt, dass ein besseres Training sich gegenüber einem schlechteren durchsetzt, egal welches älter/tradiert ist. In der Selbstverteidigung geht es im Grunde auch um Resultate, auch wenn diese anders strukturiert sind (heil zu Hause angekommen und sein) und anders überprüft werden können.

 

Im Bereich der Selbstverteidigung gibt es viele Systeme, die angeboten werden. Bekannt ist hier etwa Krav Maga. Es stammt aus Israel und wurde/wird im Militär verwendet. Allerdings entstehen so auch Mythen. Beispielsweise kann man ein System, das für das Militär entwickelt wurde, nicht ohne weiteres für den Polizeibereich und schon gar nicht für den zivilen Bereich übertragen. Die Unterschiede bestehen nicht nur darin, dass man als Zivilist selten eine AK-47 dabei hat. Man arbeitet auch nicht in einem Team, wenn man sich von seiner Wohnung zu seiner Arbeit bewegt, die Ziele sind ganz andere, etc. Zudem gibt es – wie überall – starke qualitative Unterschiede. Wer drei Jahre in der Armee gedient hat, danach keinen Job findet und deswegen eine Selbstverteidigungsschule eröffnet, hat wohl weniger anzubieten, als jemand, der systematisch über Jahre/Jahrzehnte Erfahrungen sammelt, sich mit dem Thema auseinandersetzt und so zu einer Expertise kommt.

 

Scharlatane gibt es in allen Bereichen. In den Kampfsportdisziplinen sind sie am leichtesten auszumachen. Sportliche Events werden protokolliert und oft auch aufgezeichnet. Man kann direkt prüfen, ob jemand die angekündigten Fähigkeiten wirklich hat, indem die Person in den sprichwörtlichen Ring steigt. Wenn es Regelbrüche gibt, kann es zu einer Disqualifikation kommen und dennoch gibt es manche, die über verschiedenste Mittel versuchen, sich einen unlauteren Vorteil zu verschaffen. Dabei ist Doping nur die bekannteste Methode. Schwieriger ist dies in den Bereichen der Kampfkünste und der Selbstverteidigungsdisziplinen.

 

Es gibt inzwischen eine ganze Bewegung, die „Bullshit-Martial-Arts“-Material sammeln. Beispielsweise gibt es jene, die behaupten, sie könnten ohne Kontakt einen K.O., d.h. die Bewusstlosigkeit einer Person hervorrufen. Wer sich die Mühe machen und vielleicht etwas schmunzeln möchte, kann nach Begriffen wie „no touch k.o.“ suchen. Sehr selten trauen sich solche Gestalten an einen realen Test ihrer Fähigkeiten und bisher sind alle Versuche dieser Art gescheitert.

 

Noch gefährlicher sind Gurus, also jene, die sich unter dem Deckmantel nebulöser, meist ostasiatischer Begriffe in einen Lehrerstatus erheben und als „Erleuchtete“ Schüler an sich binden. Nicht selten hat dies missbrauchenden Charakter. Man kann sie an vielen Dingen erkennen, etwa einer Kollektion von Titeln oder sehr hohen Graduierungen oder dem Insistieren auf strengen Hierarchien. Die Behauptung, dass das Durchlaufen eines strukturierten Rangsystems die persönliche Reifung fördert und Führungseigenschaften entwickelt, darf getrost in den Bereich der Mythenverklärung transferiert werden. Das wird schnell deutlich, wenn man sich die gebrochenen Seelen ansieht, die aus „strukturierten Rangsystemen“, wie beispielsweise dem Militär, kommen.

 

Im Bereich der Selbstverteidigung ist ein Test leider nicht so einfach möglich. Nur weil jemand heil nach Hause gekommen ist, hat das noch keine Beweiskraft. Wenn sich jemand immer wieder verteidigen muss, könnte es sich lohnen, den eigenen Anteil daran zu reflektieren. Das gilt auch dann, wenn sie stets siegreich aus den Konflikten hervorgeht. Schon die Formulierung verrät, dass es dabei kaum um Selbstverteidigung geht. „Siegreich“ ist man im Kampfsport, in der Selbstverteidigung verliert man nicht. Der wichtige Fokus auf der präventiven Seite ist bei diesem Wort vollkommen abhanden gekommen.

 

Allerdings gibt es natürlich auch hier Scharlatane, die genau diese Tatsache ausnutzen, dass es keinen validen Test für Selbstverteidigungsfähigkeiten gibt. Niemand verteidigt sich gegen den ersten Überfall unter der Aufsicht des Selbstverteidigungstrainers, im Kampfsport allerdings gibt es Testkämpfe. Der „one touch death kiss“ oder das „Ich bin viel zu tödlich für den Ring“ ist ebenso eine Illusion wie der „no touch k.o.“. Viele Fähigkeiten, die im Kampfsport trainiert werden, sind auch in einer Selbstverteidigungssituation hilfreich. Wer nicht mal zehn Liegestütze kann, wird den Angreifer kaum wegschubsen können, um zu fliehen, geschweige denn sich wehren können, wenn Flucht nicht möglich ist(, weil man z.B. das eigene Kind dabei hat). Was gerade jene Athleten im Bereich von MMA den Scharlatanen im Bereich der Selbstverteidigung voraus haben: sie testen ihre Techniken dahingehend, ob sie auch gegen die funktionieren, die nicht einfach mitmachen. Und nicht selten trainieren Kampfsportler deutlich intensiver.

 

Dennoch darf man nicht vergessen, dass der Begriff Kampfsport etwas anderes beinhaltet als Selbstverteidigung. Im Englischen gibt es ein schönes Sprichwort: „There is no art in violence.“ Selbstverteidigung ist für jeden anders, denn die Opferprofile sind grundverschieden. Eine Frau hat andere Bedrohungslagen auszustehen als ein Mann. Dass es Gewichtsklassen und eine Trennung der Geschlechter im Kampfsport gibt, zeigt diese Differenz deutlich auf. Dennoch darf man umgekehrt nicht den Fehler machen, diese drei Kategorien für etwas Getrenntes zu halten. Es gibt Menschen, die sich in allen drei Kategorien trainieren, so beispielsweise eine Gruppe, deren Basis okinawanisches Goju-ryu ist, das ist eine Form von Karate. So decken sie den Kampfkunstteil ab. Ferner trainieren sie für Wettkämpfe und nutzen dafür einige andere, moderne Einflüsse. Das ist der Kampfsportteil. Und gelegentlich machen sie auch Ausflüge in den Bereich der Selbstverteidigung und legen mehr den Fokus auf Vermeidungsstrategien.

 

Bei aller Differenziertheit und scharfen begrifflichen Abgrenzung, soll dieser Beitrag nicht als Aufhänger dazu dienlich sein, die teilweise vorhandene Zerstrittenheit weiter anzufachen.

 

Thilo Steinke

 

Wenn Sie, liebe*r Leser*in, Fragen oder Anmerkungen haben, schreiben Sie mir gern: info [at] krav-maga-university [dot] de